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Von Land- & Wasserratten – Eine Betrachtung zwischen Bug und Bürgersteig

Es gibt zwei Sorten von Menschen: die einen leben auf festem Boden und halten ihn für den Normalzustand der Welt – die anderen betrachten ihn eher als notwendiges Übel zwischen zwei Törns. Erstere nennt man Landratten, letztere Wasserratten. Dazwischen klafft ein Ozean aus Missverständnissen, Seemannsknoten und seltsamen Bewegungen.

1. Die Sache mit dem Gleichgewicht

Landratten haben die sympathische Eigenschaft, den Boden unter den Füßen zu lieben. Er bleibt da, wo er ist – still, zuverlässig und ohne Schwojen. Man könnte meinen, sie seien geradezu süchtig nach Statik. Eine Wasserratte hingegen empfindet solch unbewegte Festigkeit als verdächtig. Sie weiß: Wenn sich nichts bewegt, ist etwas faul.

Sobald man eine Landratte an Bord bittet, zeigt sich die Grenze zwischen Theorie und Praxis. Noch bevor das Boot den Hafen verlässt, schwankt die Landratte – nicht das Boot. Der Schritt vom Steg aufs Deck ist eine kleine Mutprobe, und während die Wasserratte lässig „Komm, ich halt dich!“ sagt, denkt sie insgeheim: Wenn du das nicht lernst, bist du verloren.

Nach wenigen Minuten beginnt das erste Wunder der Physik: die Landratte verliert nicht nur das Gleichgewicht, sondern auch das Vertrauen in die eigene Raumwahrnehmung. „Das bewegt sich ja alles!“, ruft sie entsetzt. „Ja“, sagt die Wasserratte trocken, „das ist der Sinn der Sache.“

2. Über Bewegung und Dynamik – oder: Warum der Wind kein Knopf ist

Auf dem Land kann man Dinge machen. Man schaltet das Licht ein, dreht die Heizung hoch, fährt nach links oder rechts. Auf dem Wasser aber geschieht vieles einfach – mit oder ohne Zustimmung der Beteiligten. Der Wind weht, wie er will, die Welle kommt, wenn sie kommt, und die Strömung zieht, wohin sie gerade Lust hat.

Hier offenbart sich der Unterschied im Denken:
Landratten glauben an Kontrolle. Wasserratten an Balance.

Während die Landratte den Wind als Störung begreift („Macht das Segel kaputt!“), sieht die Wasserratte darin Energie, Richtung, Leben. Sie weiß, dass Wind nicht „ausgeschaltet“ werden kann, sondern nur zu lesen ist – wie eine geheime Sprache.

„Wie stark weht’s denn?“ fragt die Landratte und blickt erwartungsvoll auf den Skipper.
„Reichlich genug, um zu segeln“, antwortet dieser und schaut zum Himmel.
„Aber was sagt das Instrument?“
„Das? Das sagt: schau besser nach oben.“

3. Kurs, Geschwindigkeit und das Mysterium Zeit

Landratten leben in einer Welt voller Termine, Pläne und Navigationssysteme, die sie mit beruhigender Autorität anpiepen. Auf dem Wasser gilt eine andere Zeitrechnung: die der Natur.

Eine Wasserratte weiß: Der Kurs mag festgelegt sein, doch die Geschwindigkeit ist eine Laune des Windes. Die ETA (estimated time of arrival) ist eine vage Hoffnung, kein Vertrag.
Landratten tun sich schwer mit dieser Unsicherheit. Sie fragen, wann man ankommt, während Wasserratten sich fragen, ob man ankommt – und wenn ja, in welchem Zustand.

„Also“, sagt die Landratte am zweiten Tag, „wir wollten doch um 17 Uhr in Rovinj sein.“
„Ja“, nickt die Wasserratte. „Wollten wir.“
„Und?“
„Wind ist gedreht. Welle steht quer. Wir kreuzen.“
„Wie lange dauert das?“
„So lange, bis wir da sind.“

Ein Satz, der für Landratten eine Zumutung ist, für Wasserratten jedoch pure Logik.

4. Die große Unsichtbarkeit – oder: Was man unter der Wasserlinie nicht sieht

Landratten vertrauen auf das Sichtbare. Straßen, Schilder, Verkehrsregeln – alles schön geregelt. Auf See aber liegt das Entscheidende oft unter der Oberfläche. Strömungen, Untiefen, Ankergrund. Dinge, die man fühlen, nicht sehen muss.

„Wie weißt du, wo du bist?“ fragt die Landratte mit Blick auf das unendliche Blau.
„Ich weiß, wo ich nicht bin“, antwortet die Wasserratte.
„Und das reicht?“
„Mehr als genug.“

Es ist diese Haltung, die Landratten irritiert: die Bereitschaft, sich auf Unbekanntes einzulassen. Eine Wasserratte plant – aber sie weiß, dass der Plan nie exakt aufgeht. Und genau darin liegt ihre Gelassenheit. Landratten hingegen halten Unvorhergesehenes für Fehler im System. Wasserratten sehen darin den Reiz der Reise.

5. Regelwerk trifft Realität – KVR und andere Orakel

Wenn Landratten einmal die „Kollisionsverhütungsregeln“ hören, denken sie an Schilder, Ampeln und Ordnung. „Da gibt’s doch bestimmt was Offizielles, oder?“
„Ja“, sagt die Wasserratte, „aber lies sie nicht vor dem Schlafengehen.“

Denn die KVR ist eine Art heilige Schrift: voller Paragraphen, Ausnahmen und Situationen, die im Ernstfall ganz anders aussehen. Sie regelt Begegnungen, Lichterführung und Vorfahrt – aber sie kann nicht erklären, warum die Yacht da vorne gerade mitten im Fahrwasser treibt, während ihr Skipper seelenruhig Kaffee kocht.

Landratten lernen: Wer auf See alles wissen will, bevor er losfährt, wird nie ablegen.

6. Von Helden, Humor und Horizonten

Am Ende sind Land- und Wasserratten gar nicht so verschieden – sie suchen beide nach Orientierung. Nur eben auf unterschiedlichen Terrains. Die eine auf Asphalt, die andere auf Atlantik.

Doch die Wasserratten haben einen entscheidenden Vorteil: Sie leben auf dem weitaus größeren Teil der Erde. Rund 71 Prozent, um genau zu sein. Sie bewegen sich durch ein Element, das sich nicht lenken lässt, sondern verstanden werden will.

Und vielleicht liegt genau darin der Kern ihrer heiteren Überlegenheit: Sie wissen, dass Kontrolle eine Illusion ist – aber Seemannschaft, Navigation und Humor echte Werkzeuge sind.

Denn wer auf dem Meer bestehen will, braucht weniger ein Navi als ein Gefühl für Wind, Welle und das, was man nicht sieht.

Und wenn die Landratte nach einem Tag an Bord erschöpft, aber stolz von ihrem „Abenteuer auf hoher See“ erzählt, lächelt die Wasserratte milde. Sie weiß: Aus jeder Landratte kann – mit Geduld, Salzwasser und einer Prise Selbstironie – eines Tages vielleicht eine kleine Wasserratte werden.

Bis dahin aber gilt:
Die einen fahren über Straßen – die anderen über Horizonte.

 

Idee & Entstehung | Hubert Schierl; Unterstützung durch ChatGPT | Nov25
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